Geschichten über Kalbe Milde
 

 


 

 

 
Der Garnisionsstandort Kalbe/Milde

von Jürgen Nikolaus, Kalbe

Nach dem 2.Weltkrieg wurde Deutschland zu Anfang bekanntlich durch die vier Großmächte regiert, bis dann 1949 erst die BRD und kurze Zeit später die DDR gegründet wurde. Somit war auch der Verlauf der innerdeutschen Grenze verbrieft und besiegelt worden, obwohl es nach nur kurzer Zeit noch einmal eine kleine Veränderung gab, die zwei der vier Großmächte bei Wodka und Whisky ausgehandelt hatten. Im Osten gab es bis zur Gebietsreform noch fünf Länder, genau wie es heute wieder der Fall ist, nur der Begriff ,,Vorpommern“ fand damals aus politischen Gründen keine Verwendung. Die Überwachung der Grenze zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen erfolgte anfangs ebenfalls durch die vier Großmächte, später durch den Bundesgrenzschutz im Westen und im Osten durch die kasernierte Volkspolizei, aus der 1952 die ,,Deutsche Grenzpolizei“ hervor ging. Überhaupt war dieses Jahr eine Zeit der großen strukturellen Veränderungen in der noch jungen DDR. Aus den fünf Ländern entstanden 14 Bezirke, deren Grenzen nichts mehr mit den früheren Ländergrenzen zu tun hatten. In diesen Bezirken entstanden darüber hinaus zusätzliche (Land)Kreise, die es davor nie gegeben hatte, eine dieser Kreisstädte war damals Calbe/Milde in der Altmark. Um dieses kleine Städtchen besser von dem erheblich größeren Calbe/Saale, südlich von Magdeburg gelegen, unterscheiden zu können, wurde vom Rat des Bezirkes angeordnet, die neue Kreisstadt ab sofort mit ,,K“ zu schreiben, eine der bürokratischen Hürden, die damals kein Mensch verstand. Des weiteren mussten sämtliche Behörden und Institutionen, die eine Kreisstadt vor zu halten hat, auch in Kalbe neu angesiedelt werden, eine Aufgabe, bei der schon damals alt hergebrachte Eigentumsverhältnisse keine Rolle spielen durften, notfalls wurde mit Gewalt nachgeholfen. Um auch den kulturellen Anforderungen an solche Orte in Zukunft gerecht zu werden, wurde von Berlin aus ein staatliches Planungsbüro damit beauftragt, einen einheitlichen Typ ,,Kulturhaus“ zu projektieren, der dann Ende der 50er Jahre z.B. in Kalbe/M., Mestlin/Mecklbg. und anderen Orten gebaut wurde. In der gesamten Republik begann zeitgleich nach dem Vorbild der Sowjetunion eine totale Umstrukturierung von Industrie und Landwirtschaft, selbst die Handwerksbetriebe blieben nicht davon verschont. In den strukturschwachen Regionen wie Mecklenburg und Altmark waren besonders die Bauern von diesen Maßnahmen betroffen, hatten sie sich doch erst gerade an die Geflogenheiten der sozialistischen Landwirtschaft gewöhnen müssen. Das tierische und pflanzliche Ablieferungssoll wurde durch den Staat ständig erhöht, so dass es fast nicht mehr möglich war, ,,Freie Spitzen“- Produkte zu verkaufen. Die Flucht vieler Landwirte mit der gesamten Familie in den Westen, besonders aus dem grenznahen Raum begann und nahm binnen kürzester Zeit erschreckende Formen an. Selbst die im Winter zugefrorene Elbe bildete kein Hindernis und wurde vielerorts als Fluchtweg genutzt. Schon Anfang der 50er Jahre gab es im grenznahen Raum unter dem Decknamen ,,Ungeziefer“ große Polizeieinsätze, bei denen, meistens nachts, Familien, die nach Meinung der Behörden, für das Grenzgebiet nicht geeignet waren, einfach ins Landesinnere umgesiedelt wurden und dort dann bei Null wieder ein neues, meistens schlechteres Leben beginnen mussten. Das Ministerium des Innern sah es als notwendig an, ab sofort die Grenzanlagen erheblich mit Stacheldraht und Minensperren zu verstärken. Um die Fluchtversuche in Richtung Westen zu vereiteln, wurden zum Beispiel in Hohenwulsch b. Bismark, Pioniereinheiten stationiert, die mit der Verstärkung der Grenze befasst waren.
Während in der Industrie die Umwandlung der noch privaten Firmen in VEB in vollem Gange war, ging es jetzt in der Landwirtschaft und im Handwerk darum, die kollektive Wirtschaft, wenn erforderlich, auch mit Gewalt durch zu setzen. Das kostete dem Staat erhebliche Kraftanstrengungen und viele Köpfe kamen ins Rollen. Auch die Maschinen-Ausleih-Stationen (MAS) wurden in MTS umgewandelt und standen ab sofort nur noch den LPGen zur Verfügung, ein weiteres Druckmittel um die Bauern zum Eintritt in die Genossenschaften zu zwingen. Man hatte sich das Planziel gesetzt, bis 1962 die Umwandlung zur kollektiven Landwirtschaft zu vollenden. Theoretisch wurde diese Planerfüllung dem Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht auch gemeldet, nur in der Praxis sah es etwas anders aus, aber unserem ,,Spitzbart“ hatte man manchmal schon ganz andere Märchen erzählt. Auch ich begann als Flüchtlingskind mit zwei Herzen in meiner Brust (gezeugt wurde ich 1944 noch im damaligen Westpreußen, geboren aber in Ludwigslust), 1960 meine Lehre als Landmaschinen- u. Traktorenschlosser in einer MTS in Westmecklenburg mit Unterbringung im Lehrlingswohnheim. Meinen ersten Jahresurlaub verbrachte ich als Traktorist mit Mähbinder in der LPG meines Heimatortes, jeden Pfennig konnte man schließlich gebrauchen, so auch den Sonntag, 13. August 1961. Was genau einen Monat später in dem kleinen Altmarkstädtchen Kalbe passieren sollte, erahnte ich damals nicht mal in meinen kühnsten Träumen, aber dazu später mehr. Im Laufe meiner dreijährigen Lehrzeit konnte ich dann noch mit etwas List und Tücke, ohne Mitglied in der FDJ u. GST zu sein, alle Fahrerlaubnisklassen erwerben, die ich im späteren Leben gut gebrauchen konnte. Dabei hatte man sich beim Rat des Kreises aber doch etwas gedacht, denn ich sollte nach Abschluß meiner Lehre in unsere LPG eintreten, um als Brigadeschlosser zu arbeiten. Da hatte man aber die Rechnung ohne den Wirt gemacht und so war ich im September 1963 der erste Arbeitslose weit und breit, denn keine andere Firma durfte mich damals einstellen. Anfang Oktober kam dann der Rettungsanker in Form des gerade neu entstandenen VEB Meliorationsbau, wo ich ab sofort als Baumaschinenschlosser arbeiten durfte und somit nicht mehr in der Landwirtschaft tätig war. Die meisten Baustellen befanden sich im Grenzgebiet und mir wurde auch sofort ein Passierschein ausgestellt, was bestimmt nicht geschehen wäre, wenn man gewusst hätte, dass mein Vater schon 1951 einem Wanderschäfer mit 400 Kopf Schafen, theoretisch über die Grenze nach Schleswig-Holstein geholfen hatte und wir ihn später auch noch mit falsch adressiertem Interzonenpass besucht haben.

Zwischenzeitlich kam auch für mich die im Januar 1962 in Kraft getretene Wehrpflicht zur Anwendung. Im April 1964 wurde ich in Hagenow zum Kfz.-Wesen gemustert, keine Ahnung davon, was das zu bedeuten hatte. Ein Jahr später lag dann der Einberufungsbefehl zu Hause auf dem Tisch, ich hatte mich am 3.05.1965 im 23. GAR in Glöwen, damals noch im Bezirk Schwerin gelegen, zu melden. Bald wurde mir klar, dass so ein Grenzausbildungsregiment kein Ponnyhof ist. Zwei Ausflüge auf LKW mit heruntergelassener Plane gab es in den ersten vier Wochen auch, zum einen nach Stendal zur Vereidigung und zum anderen nach Berge b. Gardelegen, wie ich später erfuhr, zum Schießen. Am 1.Juni mussten wir zum Abschluß der Grundausbildung mit kompletter Ausrüstung auf dem Ex-Platz zwecks Versetzung antreten, nur keiner von uns wusste, wohin die Reise geht. Mit einigen wenigen anderen Soldaten wurden wir als einzige zu einem H6 – Bus befohlen, die Fahrt ging wieder Richtung Westen, wie ich am Stand der Sonne erkennen konnte. In Kalbe erkannte ich deutlich das Ortsschild und in mir keimte die heimliche Hoffnung, dass ich nicht irgendwo an die Grenze versetzt werde. Richtig gedacht, ab sofort war ich Schlosser in der Stabskompanie der 5. Grenzbrigade, nach einem halben Jahr erwarb ich in einer 10minütigen Prüfung noch den Busschein auf dem H6B, der mich aus Glöwen hier her gebracht hatte und ab sofort war ich Busfahrer, lernte in kürzester Zeit den Grenzabschnitt zwischen Weferlingen u. Aulosen genauestens und darüber hinaus die gesamte DDR ohne Navi kennen, eine Erfahrung, die mir bis heute noch zu Gute kommt. Des weiteren erfuhr ich von den älteren ,,Genossen“ unter anderem, dass es die 5. Grenzbrigade in Kalbe erst seit 1961 gab. Nach 17 Monaten war die Sache dann beendet, sie hatte sehr wenig mit Armee zu tun, dafür aber mit viel praktischer Erfahrung, die ich auch beruflich sammeln konnte. Nach einem halben Jahr in der Heimat kehrte ich zu meiner Freundin zurück in die Altmark und wurde Familienvater. Wie alles in Kalbe mit den Grenztruppen angefangen hatte, erfuhr ich erst etwas später von meinem späteren Arbeitskollegen, langjährigen Wegbegleiter und späteren Mentor bei meiner Meisterausbildug, Hermann Ulrich aus Altmersleben, der bis heute in seinem fortgeschrittenen Alter noch nicht darüber fertig werden kann, was ihm damals widerfahren ist.

Der Einzug der Gladiatoren

Ulrich hatte schon vor Vollendung seines 25.Lebensjahres seinen Handwerks-Meisterbrief im Landmaschinenfach in der Tasche und war somit befähigt, im Ausbildungs-Kombinat am heutigen Buchenweg, das der MTS Kalbe angegliedert war, als Ausbildungsleiter tätig zu sein. Auch dabei spielten politische Aspekte eine große Rolle, schließlich hatten seine Eltern einen Grundbesitz über 20 Hektar, den sie damals noch nicht in die LPG eingebracht hatten, trotzdem bekam er den (neudeutsch) Job damals auf Grund seiner pädagogischen Fähigkeiten. Dafür war er sogar bereit, Mitglied der SED zu werden, was in seinem speziellen Fall auch auf Widerstand stieß, letztendlich aber doch in Ordnung ging. In seiner Position Mitglied der Betriebs-Kampfgruppen zu sein, galt damals als Selbstverständlichkeit. Das Ausbildungsjahr 1961 neigte sich dem Ende zu und die Facharbeiterprüfungen standen an. Die Ausbilder hatten gemeinsam mit den Lehrlingen das gesamte Objekt einer Renovierung unterzogen und die Werkstatt, soweit es zu beschaffen war, sogar mit neuem Werkzeug ausgestattet. Bei einem ,,Tag der offenen Tür“ präsentierte man den neuen Lehr- lingen und deren Eltern mit Stolz das Erreichte. An diesem Tag waren neben Funktionären der SED-Kreisleitung und des Rates des Kreises auch Offiziere der Grenztruppen anwesend, kein Mensch konnte ahnen, mit welchem Auftrag sie erschienen waren. Am 15.09. hatte in Berlin der NVR (Nationaler Verteidigungsrat) getagt und den Befehl 1/61 erlassen, der beinhaltete, dass ab sofort die Grenzpolizei in ,,Grenztruppen der NVA“ umgewandelt werden und dem Ministerium für nationale Verteidigung zu unterstellen sind. Genau 14 Tage hatten die Grenzaufklärer Zeit, im Hinterland der Grenze nach geeigneten Objekten Ausschau zu halten um dort ,,Grenzbrigaden“ zu stationieren, durch die eine noch bessere Sicherung der Staatsgrenze zu gewährleisten sei. Für den Bezirk Magdeburg waren 2 Standorte vorgesehen, einen davon gab es schon vorher in Magdeburg-Rothensee. Am Nachmittag des 2.Oktober erhielt der Kommandeur der Kampfgruppen den Befehl, seine Truppe für den späten Abend für einen Einsatz zu alarmieren, auch hierbei wusste keiner, um welchen Einsatz es sich han- delt. Mit bereit stehenden LKW ging es nachts Richtung Oebisfelde, starke Einheiten der Volkspolizei waren ebenfalls unterwegs. Dort angekommen, erhielt H. Ulrich von einem Stasi- Offizier eine Liste mit Namen und Adressen, diesen Leuten hatten er und die anderen klar zu machen, dass sie bis um 7 Uhr ihre Wohnungen zu verlassen haben und diese auch nie wieder betreten werden. Es spielten sich Szenen ab, die nicht bloß für die Betroffenen sondern auch für Ulrich wie ein Märtyrium erschienen, das so gar nicht mit seiner sozialen Einstellung zusammen passte. Das schlimmste daran aber war, dass die Kampfgruppen vor Beginn der Aktion ,,Kornblume“, andere sagen ,,Festigung“, durch die Stasi vergattert wurden, auf keinen Fall hinterher mit jemand über das Erlebte zu sprechen. Mit bereit stehenden Möbelwagen wurden die Betroffenen irgendwo hin ins Landesinnere verbracht und in der nächsten Nacht war dann der Einsatz beendet, am Morgen sollte der ganz normale Berufsalltag wieder beginnen. Völlig erschöpft von dem Erlebten betrat Ulrich zum Beginn der Arbeitszeit sein Büro und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Auf dem Tisch lag ein Stahlhelm, der aber nicht seiner sein konnte, denn den hatte er schon zu Hause in der Nacht abgesetzt. Als er um die Ecke schaute, lag dort auf seiner von zu Hause mit gebrachten Couch ein Hauptmann der Grenz- truppen. Auf die Frage, was er denn hier in seinem Büro zu suchen hätte, antwortete dieser ganz spontan: ,,Das war mal Ihr Büro, es gehört ab sofort den Grenztruppen und die Werkstatt ebenfalls!“ Auf eine weitere Frage, wo denn die Lehrlinge seien, besonders die, die in den nächsten Tagen Prüfung hätten, gab es als Antwort: ,,Die haben wir gestern auf unbestimmte Zeit nach Hause geschickt und Sie verlassen bitte auch umgehend dieses Objekt!“ Wie sich im weiteren Verlauf des Tages auf Nachfrage herausstellte, hat nicht einmal der Direktor der MTS, Horst Baumecker, von dieser Hausbesetzung etwas gewusst, also entschloss man sich spontan zu einer Verzweiflungstat, die eine weitere schlaflose Nacht mit sich brachte. Spät abends fuhren Beide mit einem Lieferwagen der MTS und mit Weidenkörben ausgestattet, zur ehemaligen Lehrwerkstatt, um in diese durch ein aufgebrochenes Fenster ein zu steigen. Alles, was sie an gebrauchsfähigem Werkzeug greifen konnten, nahmen sie mit und wurden dabei nicht erwischt, das hätte aber auch sehr schlimm ausgehen können, wie beiden erst später klar zu werden schien. Als man später für die Lehrlinge in Kalbe und Bismark neue Ausbildungsräume gefunden hatte, war wenigstens der Grundstock an Werkzeug schon vorhanden. Mit den Hausbesetzungen sollte es aber noch nicht alles gewesen sein. Genau an der Stelle am Buchenweg, an der heute die Autowäsche steht, hatte sich die ebenfalls erst neu strukturierte Wasserwirtschaft wegen der Nähe zum Wasserturm einen 4WE- Block bauen lassen, der aber noch nicht bezugsfertig war, auch er wurde beschlagnahmt und diente ab sofort als ,,Stabsgebäude“. Im ehemaligen Lehrlingswohnheim (heute steht dort der neue NP-Markt) wurde unten der Küchentrakt mit 2 Speiseräumen (für Mannschaften u. Berufssoldaten) eingerichtet, im Obergeschoss fanden die Chiffrierer und die Abwehr (Stasi) ihren Platz. Erster Kommandeur der 5. Grenzbrigade wurde der ehemalige Volkspolizist aus Weimar, Oberst Beute, der ab sofort die Grenztruppen zwischen Walbeck- Weferlingen und Aulosen (Elbe) zu befehlen hatte, ihm unterstanden die drei Grenzregimenter in Gardelegen, Beetzendorf und Salzwedel mit den dazu gehörenden Battalionen und Grenzkompanien, letztere wurden in der Folgezeit durch Neubaublöcke modernisiert. Ab 1962 wurde der Major Klaus-Dieter Baumgarten 1.Stellvertreter des Kommandeur, nach 2 Jahren konnte er diese Dienststellung als Sprungbrett benutzen und sich über mehrere Stationen zum Chef der Grenztruppen der DDR, mit dem Dienstgrad ,,Generaloberst“ hochdienen.

Somit war eine Grenzbrigade mit der Truppenstärke einer Division vergleichbar und Kalbe war ab sofort Garnisonsstandort. Gleich zu Anfang der Existenz gab es im Grenzabschnitt zwischen Buchhorst und Jahrstedt einen Grenzdurchbruch der besonderen Art. Am 12. Oktober 1961 übertrat im Raum Kaiserwinkel, Landkr. Giffhorn, der Journalist und ehemalige Kommunist, Kurt Lichtenstein von der ,,Westfälischen Rundschau“ die Grenze, um angeblich dort arbeitende LPG- Bauern zu interviewen. Nach Aufforderung zum ,,Stehenbleiben!“ ignoriert er diese und wird von Grenzsoldaten angeschossen, noch am gleichen Tag verstirbt er im Krankenhaus in Klötze. Indes gehen die Bauarbeiten auf dem Gelände der neuen Dienststelle in Kalbe in rasantem Tempo voran, Baracken und Schleppdächer werden errichtet, auch eine neue Tankstelle entsteht in der Nähe der Werkstatt. Im November treffen die ersten noch freiwilligen Soldaten aus allen Landesteilen in Kalbe ein, das dritte Objekt, diesmal in der Altstadt am Pottkuchen, wird beschlagnahmt und zur Kaserne umfunktioniert, es diente vorher den Arbeitern der Brauerei ,,Schulze u. Kummert“ als Wohnhaus. Jeden Morgen marschierten die Soldaten im Gleichschritt die Einbahnstraße entlang, Richtung Petersberg, abends in umgekehrter Richtung. Soldaten waren den älteren Kalbensern noch gut in Erinnerung, denn vor etwa 15 Jahren hatte es auf dem Gelände des ehemaligen ,,Goliath“ noch ein riesiges Kriegsgefangenenlager gegeben. Seitdem existiert der Begriff ,,Pottkuchenrunde“, er verliert aber bald wieder seine Bedeutung, da die Soldaten, die ab Januar 1962 von ,,Wehrpflichtigen“ ergänzt werden, in neue Unterkünfte in eine Baracke auf dem Petersberg umzogen. Das Haus am Pottkuchen wurde zum Ledigenwohnheim für ,,heimatlose“ Zeitsoldaten. Ähnliches passierte in Hohenwulsch, dort wurden die Grenzpioniere nach Peckfitz in die heutige ,,Waldsiedlung“ umverlegt und der Wachzug von Kalbe erhält dort seine Unterkunft, der andere Teil des Schlosses wird ebenfalls Ledigenheim für ,,heimatlose“ Berufssoldaten. Morgens und Abends gibt es Linienverkehr zwischen Kalbe und Hohenwulsch. Eine schon existierende Nachrichtenkompanie in Klötze gehört, genau wie der Schießplatz in Berge am Kahnberg, ab sofort zum Stab der 5. Grenzbrigade. Im Wald bei Vahrholz wird von den ausgebildeten Funkern eine stationäre Funkstation errichtet. Anfang des nächsten Jahres gibt es auch einige Neuzugänge an weiblichen Zeitsoldaten, ihnen werden als Unterkünfte Zimmer bei Privatleuten angeboten. Eine von ihnen ist die junge gelernte Weberin aus dem Erzgebirge, Monika Voigt. Sie war zu Hause die Alleinverdienerin und musste praktisch ihre Eltern mit ernähren, deshalb ließ sie sich an einer Schule des ZK in Zinnowitz/ Usedom auf diese neue Aufgabe vorbereiten. Nach kurzer Einarbeitungszeit war sie ab sofort die Sekretärin des Kommandeurs, ihren Dienst versah sie meistens in Zivil, nur zu besonderen Anlässen war Dienstuniform befohlen. Nach einiger Zeit wurde der Kommandeur in seine alte Heimat nach Erfurt versetzt, dort gab es ebenfalls eine Grenzbrigade. An seine Stelle wird Oberstleutnant Eydam kommandiert, durch seinen plötzlichen Tod wird Oberst Gaile letzter Chef im Brigadestab. Bald lernte Moni, wie sie alle nannten, ihren Gerold, ebenfalls ein Zeitsoldat aus Dippoldiswalde, kennen und lieben. Nach dem man ihnen in einem der inzwischen drei, neu auf dem Petersberg errichteten 24 WE- Blöcke eine Wohnung in Aussicht gestellt hatte, schlossen sie den Bund für´s Leben. In meinem 2. Diensthalbjahr war der Feldwebel Gerstorf dann noch zum Abschluß seiner Dienstzeit mein Chef. Da er einer von den ,,Guten“ war, verbrachten wir, besonders nach Feierabend, noch eine schöne Zeit miteinander. Ende April 1966 hatten er und seine Moni (sie war inzwischen zum Stabsfeldwebel befördert worden) ihre Dienstzeit beendet und ich hatte als Busfahrer die Aufgabe, beide, zusammen mit den anderen EK´s, nach Stendal zum Zug zu fahren. Diesen Job, der immer mit etwas Wehmut behaftet war, hatte ich insgesamt zwei Mal zu erledigen. Beide hatten sich damals bei der SDAG-Wismut in Königsstein beworben und erhielten in Pirna gleich eine Wohnung, in der sie danach zwei Kinder groß zogen und heute als Rentner noch darin leben.

In meiner aktiven Zeit konnte und musste ich leider die Feststellung machen, dass viele Angehörige der Grenztruppen, ob mit oder ohne Familie nicht genau wussten, was das wahre Leben eigentlich ausmacht, denn obwohl der Verdienst ab Zeitsoldat aufwärts nicht der schlechteste war, hatten manche außer ihrer Uniform und dem braunen Trainingsanzug nichts ordentliches weiter an zu ziehen. Erst im Laufe der Jahre änderte sich dieser Zustand allmäh- lich, wie ich als späterer Bürger von Kalbe beobachten konnte. Meine erste Arbeitsstelle war damals beim KFL, der 1963 aus den 3 MTS des Kreises gebildet worden war, als Kfz.- Elektriker. Durch diese interessante Tätigkeit lernte ich innerhalb kürzester Zeit sehr viele Menschen kennen, unter ihnen war auch der Lehrmeister aus Altmersleben, Hermann Ulrich. Bald war diese schöne Zeit aber vorbei, denn in der ehemaligen Traktorenwerkstatt wurde eine Taktstraße für spezialisierte Instandsetzung eingerichtet und dafür auch das zukünftige Lohngefüge verändert. H. Ulrich schwebte ebenfalls eine berufliche Veränderung vor, in Altmersleben gab es seit kurzer Zeit eine Meliorationsgenossenschaft, in der noch der technische Betriebshof fehlte. Gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen und H. Ulrich beschlossen wir, diese Aufgabe anzugehen. Trotz fehlender Bilanzanteile für Werkstatteinrichtungen gelang es uns, manchmal unter missteriösen Umständen und Beziehungen, eine schlagkräftige Werkstatt einzurichten. Da wir mit der Reparatur der wenigen betriebseigenen Maschinen anfangs nicht ausgelastet waren, bedienten wir bald auch Kundschaft aus der Umgebung, die wir schon vom KFL her kannten. Da in der weiteren Entwicklung auch die Pioniere der Grenztruppen Baumaschinen gleicher Art wie wir zur Verfügung hatten, kamen auch sie zu uns um Ersatzteile zu ,,schnurren“, die auch bei ihnen ,,Mangelware“ waren. Nur mit der Gegenleistung war es manchmal nicht so einfach, da keiner von uns die Dienststelle in Kalbe ohne Passierschein betreten durfte, selbst am einfachen Telefongespräch scheiterte es meistens, umgekehrt dagegen funktionierte es, deshalb besuchte man sich dann auch schon mal nach Feierabend außerhalb der Dienstelle, um einen Deal aus zu handeln. Diese Treffen blieben ganz sicher nicht unbeobachtet, was uns aber nicht weiter störte, es musste ja schließlich weitergehen in der Mangelwirtschaft. Nach knapp 10 Jahren, die Zahl der Fluchtwilligen aus der DDR hatte keinesfalls abgenommen, stand mal wieder eine strukturelle Veränderung zur noch besseren Grenzsicherung an. Der NVR hatte beschlossen, die Grenzbrigaden aufzulösen um in Kalbe und Erfurt die Grenzkommando´s ,,Nord“ und ,,Süd“ zu stationieren, um die Verstärkung und Sicherung der Staatsgrenze besser koordinieren zu können. Ab sofort war in Kalbe ein General der ,,Oberbefehlshaber“. Wiedereinmal gab es am Standort Kalbe und an der Grenze selbst, größere Baumaßnahmen. Elektronik sollte durch die Errichtung eines dritten Grenzsperr- u. Signalzaunes in unterschiedlichen Abständen auf einer Gesamtlänge von 1186 km in den Grenzkompanien Einzug halten. Zu diesem Zweck erhielten die Pioniere im neuen Grenzabschnitt zwischen Benneckenstein (Harz) u. Dassow (Ostsee) (sogar die 100 km lange Elbgrenze gehörte jetzt dazu) vier Kabelfräsen auf Basis des sowjetischen Traktor MTS 50. Die Meliorationsgenossenschaft in Altmersleben übernahm zu Anfang die Null- Durchsichten und später für die Fräsketten die Verschleißreparaturen, was für mich eine erneute Bekanntschaft mit der Grenze bedeutete. Als Gegenleistung bekamen wir von den Grenztruppen einen ausgemusterten Autograder (Wegehobel), den wir unbedingt benötigten, angeboten. Bald wurde klar, dass die Bausubstanz in Kalbe einfach für diese Aufgabe nicht mehr geeignet war, also begann man, in Stendal im Wald ein vollkommen neues Objekt nach modernsten Gesichtspunkten zu errichten. Nach nur 2 Jahren wurde das ,,Grenzkommando- Nord“ mit einem großen Zapfenstreich aus Kalbe verabschiedet. Das GR 23 ,,Wilhelm Banick“ wurde in gleichem Atemzug von Gardelegen nach Kalbe verlegt. Inzwischen hatte der NVR die Grenztruppen wegen der zu hohen Truppenstärke aus der NVA ausgegliedert, sie waren aber nach wie vor dem ,,Ministerium für Nationale Verteidigung“ unterstellt. Da man die nicht weniger gewordenen Berufsunteroffiziere und Offiziere des Stabes auch nach Dienstschluß vor Ort haben wollte, wurden Ende der 70er Jahre noch zwei weitere 24 WE- Blöcke gebaut. Eine Verkaufsstelle der MHO (Militär- Handelsorganisation), in der es Waren, ähnlich wie im Intershop, zu kaufen gab, war eine echte Bereicherung, manchmal auch für zivile Bürger unserer Stadt, die entsprechende Beziehungen hatten. Viele Ehepartner hatten entweder als Zivilangestellte oder in der Stadt ihre Arbeit, andere wiederum wussten mit ihrer Freizeit tagsüber wenig an zu fangen und kamen manchmal auf dumme Gedanken.
In der Zeit als Regimentsstandort gab es ansonsten in Kalbe keine größeren Veränderungen. Nach insgesamt 29 Jahren war am 2. Oktober 1990 die Ära der Grenztruppen beendet und für viele von ihnen brach eine Welt zusammen, andere besannen sich darauf, das sie auch mal was ,,anständiges“ gelernt hatten und fanden bald wieder Anschluß an die übrige Welt. Der letzte noch verhältnismäßig junge Regimentskommandeur, ein Oberst mit akademischem Abschluß, der noch kurz zuvor auf der neu entstandenen ,,Europawiese“ zwischen Böckwitz u. Zicherie, über die heute kaum noch jemand spricht, an der Seite eines hohen Beamten des BGS im Stechschritt marschiert war, fühlte sich nach seiner baldigen Entlassung, im Gegensatz zu vielen anderen seiner Genossen, plötzlich zu ,,rechten“ Gruppierungen hingezogen. Irgendetwas muß an der Militärakademie wohl schief gelaufen sein, wie mir damals schien.


Mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Nikolaus, Kalbe(Milde)

 
 
 
 
 
   
  
 

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